- griechische Religion: Heilige Stätten, Kulte und Feste
- griechische Religion: Heilige Stätten, Kulte und FesteDer Mittelpunkt des gemeinsamen Gottesdienstes ist im modernen Europa normalerweise die Kirche; man kann sich daher kaum vorstellen, dass es Derartiges im antiken Griechenland nicht gab. Zumindest der minoischen und mykenischen Gesellschaft des zweiten vorchristlichen Jahrtausends war der Tempel als eigenständiger Sakralbau völlig unbekannt. Man verrichtete den Götterkult entweder in einem Raum des Palastes, wo er wahrscheinlich von der Herrscherfamilie bestimmt wurde, oder in Heiligtümern unter freiem Himmel, auf Berggipfeln etwa, in Höhlen oder kleinen Kultbezirken auf dem Land. Während der »dunklen Jahrhunderte«, die dem Zusammenbruch der mykenischen Kultur um 1200 v. Chr. folgten, scheint sogar alles kultische Handeln unter freiem Himmel stattgefunden zu haben; man scharte sich üblicherweise um einen fest aufgerichteten Brandopferaltar.Der Altar und nicht der Tempel war das ausschlaggebende Element eines griechischen Heiligtums. In seiner einfachsten Form bestand das Heiligtum oft nur aus einem Altar, der von geheiligtem Raum umgeben war, und einem weiteren Element - einem Stein oder Baum, einer Höhle oder einem Hain -, das diesen Kultplatz in der Landschaft hervorhob. Im 8. Jahrhundert begannen die sich herausbildenden Stadtstaaten mithilfe der Religion ihre Identität zu entwickeln. Im Mittelpunkt dieses Prozesses standen nicht selten die Heiligtümer, die dadurch größer und bedeutender wurden. Außerdem führte größere Mobilität dazu, dass panhellenische Heiligtümer, also Kultstätten »aller Griechen«, entstanden - beispielsweise Olympia oder Delphi, wo die griechischen Städte Götter befragen konnten.Die Lage eines Heiligtums wurde vor allem durch seine Funktion bestimmt. In der Stadtmitte lagen die Tempel jener Götter, die eng mit der sozialen und politischen Ordnung verbunden waren, die Tempel des Zeus etwa und der Athene. Oft befanden sich außerhalb der Polisgrenze die Tempel von Apoll, Artemis, Hera und Demeter, von Gottheiten also, die antiker Auffassung nach gegen die Polisordnung standen oder sie zumindest nicht stützten. So überwachten Artemis und Apoll die Riten des Erwachsen-Werdens von Jugendlichen, die ihren Platz in der Polis noch nicht eingenommen hatten. Neben den zuletzt genannten Fällen, in denen das Wesen der Götter die Lage der Heiligtümer - nämlich außerhalb der Siedlung - bestimmt, gibt es auch andere, in denen die spezifische Funktion der Heiligtümer ihre besondere Lage bestimmt.Orakel und Heilkultstätten befanden sich normalerweise außerhalb größerer Siedlungen, manchmal sogar in großer Entfernung: Die Griechen meinten offenbar, die Gunst ihrer Götter nicht ohne die Überwindung von Hindernissen erreichen zu können. Auch die großen panhellenischen Heiligtümer wie Olympia und Nemea zählen zu diesem Typ. Vornehme Griechen konnten dort ohne die Zwänge des Alltagslebens Standesgenossen treffen, dabei politische Themen diskutieren, Heiratsverbindungen arrangieren, sportliche Wettkämpfe austragen und dem Vortrag von Dichtern zuhören. Antike Heiligtümer wurden also vielfältiger genutzt als moderne Kirchen.Im Zentrum des kultischen Geschehens stand das Opfer. Die Griechen besuchten ihre Heiligtümer bei vielen verschiedenen Gelegenheiten - privaten wie Hochzeiten, öffentlichen wie städtischen Festen - und opferten Tiere, manchmal auch spezielle Opferkuchen. Das Opfer diente dazu, den Göttern zu danken oder ihre Gunst zu erbitten, daneben aber erfüllte es auch den Zweck, das dabei anfallende Fleisch zu verteilen. Die Götter bekamen nur die Knochen und das Fett der Tiere, die Menschen aber alle essbaren Stücke. Weil die Häuser der Griechen oft klein waren und für größere Einladungen ungeeignet, besaßen viele Heiligtümer Gebäude, die zeitweise oder auch dauerhaft als »Gaststätten« dienten - im Heiligtum der Demeter und Kore in Korinth hat man noch Kochtöpfe und Tassen gefunden. Es gab noch eine andere Art von Opfer: Wie es heute noch weit verbreitet ist, so drückten auch die Griechen der Antike Dank oder Wünsche durch Weihgaben aus.Gerade die Heiligkeit von Tempeln führte dazu, dass viele von ihnen zur Sicherung von privatem und öffentlichem Vermögen genutzt wurden. Aus demselben Grund wurden die Tempel bevorzugte Zufluchtsorte für Asylsuchende, die auf griechischen Vasenbildern oft auf Altären sitzend dargestellt werden. Auch Kriegsflüchtlinge suchten in Heiligtümern Schutz. Und schließlich wurde in Heiligtümern den Göttern ein Teil der Kriegsbeute geweiht. Weil man zu jedem Weihgeschenk eine Geschichte erzählen konnte, trugen die Heiligtümer somit zur Erhaltung der Erinnerung an die eigene Geschichte bei. Oft muss vor diesen Denkmalen einer großen Vergangenheit die lokale Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben worden sein: Eltern schritten wohl mit ihren Kindern durch das Heiligtum wie durch ein Museum. Manche Tempel dürften auch einer Kuriositätensammlung ähnlich gewesen sein: Im Heraion von Samos haben Archäologen Zähne eines Flusspferdes, Geweihstangen einer Antilope und Straußeneier gefunden. Dort gingen übrigens auch lebende »Kuriosa« herum: Pfauen. In den Tempeln spielte sich also ein buntes Leben ab.Die Griechen nannten viele Riten »heortaí« (Feste) und verbanden mit diesem Wort gutes Essen, angenehme Gesellschaft, gute Unterhaltung. Ein religiöses Fest unterbrach auf durchaus willkommene Weise die Unannehmlichkeiten des Alltagslebens, was angesichts der Vielfalt des Programms nicht überrascht. Ein Fest begann oft mit einer langen Prozession, in der die Aristokratie ihren Reichtum und die Stadt ihre Macht demonstrieren konnte.Eines der spektakulärsten Feste müssen die Panathenäen in Athen zu Glanzzeiten der athenischen Machtentfaltung gewesen sein: Bei den sportlichen Wettkämpfen konnten die Männer Athens sich in vielen Disziplinen messen, zum Beispiel im Boxen, im Waffenlauf und in den Einzeldisziplinen des Pentathlon, des Fünfkampfes: Ringen, Laufen, Springen, Diskus- und Speerwerfen. Wir besitzen zum Glück noch viele der großen Preisamphoren, auf denen diese Aktivitäten dargestellt sind, denn die Textquellen bieten hierzu kaum Information.Es gab viele verschiedene Feste, und je größer eine Stadt war, desto mehr wurde dort gefeiert. Man hat Inschriften gefunden, auf denen Festkalender aufgezeichnet sind; sie zeigen, dass selbst kleinere Gemeinden ihre eigenen Feste feierten. Ein Großteil dieser Feste war Männersache, es gab aber auch einige Feste, die speziell den Frauen gehörten.Frauenfeste nahmen einen ganz anderen Verlauf als die Feste der Männer. Bei den Thesmophorien, einem Fruchtbarkeitsfest der Demeter und der Persephone, das anlässlich der Aussaat begangen wurde und in den meisten Städten drei Tage lang dauerte, zogen die Frauen mit Speisen, Zweigen und Ferkeln zum Kultplatz, wo sie Hütten bauten und Schlafstätten aus anti-aphrodisierenden Pflanzen richteten - sodass ihre Ehemänner keine unpassenden Liaisons vermuten brauchten! Am zweiten Tag fasteten sie, saßen auf dem Boden und verzichteten auf die sonst bei Festen üblichen Blumenkränze. Im Mythos von Demeters Suche nach ihrer Tochter Persephone, der eng mit diesem Ritual zu tun hat, kam das Fasten so zu seinem Ende: Baubo, eine alte Frau, brachte Demeter zum Lachen, indem sie ihren Rock hob. Dieses Detail des Mythos reflektiert vielleicht Berichte über Spottkämpfe und obszöne Reden während des Festes: Der Rückkehr zur Normalität musste eine Zeit extremen Gegensatzes vorausgehen. Am dritten Tag der Thesmophorien holten die Frauen verweste Reste von Ferkeln aus Erdlöchern, wo sie einige Zeit zur Verrottung gelegen hatten, herauf und legten sie als Dünger auf die Altäre. Fruchtbarkeit war nun gesichert, der Alltag konnte wieder einkehren.Prof. Dr. Jan N. BremmerBremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Autorisierte Übersetzung von Kai Brodersen. Darmstadt 1996.Bruit Zaidman, Louise und Schmitt Pantel, Pauline: Die Religion der Griechen. Kult und Mythos.Aus dem Französischen übertragen von Andreas Wittenburg. München 1994.
Universal-Lexikon. 2012.